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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Ralf TurtschiIch werde schon mal gefragt, welches denn meine Lieblingsschriften seien. Lieblingsschriften? Etwas säuerlich versuche ich dann jeweils, die gut gemeinten Small Talks zu umgehen: «Da gibt es einige, und arm ist, wer nur eine hat!» Eigentlich ist die Frage unqualifiziert, und wer sich intensiv mit guten Schriften beschäftigt, wird das bestätigen können. Es ist vergleichbar, wie wenn man nach den besten Schuhen aller Zeiten fragt, und die Verkaufszahlen als Grundlage hinzuzieht. Wenig erstaunlich machen Flip-Flops das Rennen, die Gummilatschen, die in aller Welt getragen werden. Nun wird niemand in Flip-Flops ernsthaft versuchen, eine Wandertour in felsigem Gelände zu unternehmen. Die sind dafür gänzlich ungeeignet.

Genauso dümmlich verhält es sich mit der Frage nach Lieblingsschriften oder Rankings wie Fontshops «Die 100 besten Schriften aller Zeiten». Zehntausende Schriften einfach so in einen Topf zu werfen und sie zu raten, ist etwas merkwürdig. Auch wenn sie nach Verkaufserfolg (40%), historischer Bedeutung (30%) und ästhetischer Qualität (30%) gewichtet werden. Auch wenn so genannte Experten mitmischen, die Clarendon, Bembo und Bodoni zu ihren Lieblingen erklären. Ich sag es mal vorsichtig: Im Bleisatz stehen geblieben …

Eine Handschrift erfüllt einen anderen Zweck als eine Zeitungsschrift; eine plakative Schrift ist wiederum ganz anders zu werten als eine Hausschrift, die möglichst einfach im Gebrauch sein soll. Wunderlich nur, dass die Arial als die wohl am meisten verbreitete Schrift nicht im Ranking auftaucht.

Mindestens sollte man versuchen, Schriftenrankings in bestimmte Gebrauchsklassen einzuteilen, auch wenn dies nicht ganz einfach ist. Fonts können heute so ausgebaut werden, dass unzählige von Schriftschnitten viele Bedürfnisse abdecken. Sie bilden ganze Schriftfamilien mit und ohne Serifen, als Slab, kursiv und gerade stehend, von hairline bis extrafett. Es gibt Design­bedürfnisse, die sich gerne auf eine solche Grossfamilie stützen, aber auch andere, wo nur gerade ein Schriftschnitt prägend wirkt. Schriften werden auch mal für ein Unternehmen gezeichnet (Audi, VW, Siemens, SRF) und sind nicht öffentlich erhältlich. Sie und Fonts anderer Foundries aus den Rankings zu verbannen, ist etwas anmassend, wenn man das prätentiöse Attribut «beste» verwendet. «Historische Bedeutung» und «Verkaufserfolg» haben eher wenig mit heutigen Bedürfnissen zu tun und lassen den Suchenden im Regen stehen.

Nun, Rankings oder Lieblingsschriften von Designern sind nun mal da und machen auch Spass, man kann sich über deren Ansichten amüsieren oder den Kopf schütteln. Wer aber solches für bare Münze nimmt und als Grundlage für Kaufentscheide wertet, der hat nicht verstanden, was Schriften zu leisten vermögen. Wer «Die 100 besten Schriften aller Zeiten» als Kaufargument einsetzt, hat höchstens Gewähr, dass er sich mit Mitbewerbern im gleichen Boot befindet und sich weniger hervortun kann. Die UBS, die Post und Sunrise haben wohl zusammen so viele Frutiger-Lizenzen, dass andere Schriften im Kriterium «Verkaufserfolg» gleich einpacken können. Nun, was viele wählen, kann nicht falsch sein – ist aber sicherlich ausgelutscht. Nichts an dieser Tatsache ändert sich, wenn die Frutiger nun zum zigsten Mal neu aufgelegt und neu benannt wird.

Wenn Designer ihre Liebhabereien als Vorbild präsentieren, kann das durchaus als Inspirationsquelle dienen, diese Schriften genauer anzu­sehen und in eine Evaluation miteinzubeziehen (oder auszuschliessen).

Bedürfnisse

Man sucht nicht unspezifisch eine Schrift, sondern eine, die bestimmte Bedürfnisse erfüllt. «Sie soll weltweit in allen Sprachen zur Verfügung stehen», ist ein ganz anderes Bedürfnis als «Sie soll klein auf Verpackungen gut leserlich sein». Dass Schriften alle Bedürfnisse gleichermassen befriedigen, glauben selbst die Schriftdesigner und -verkäufer nicht, obschon solcher Unsinn immer wieder angepriesen wird. Eine gute Leseschrift wird kaum die gleichen Qualitäten als Headlineschrift für die Boulevardpresse aufweisen. Wenn jemand also nach Lieblingsschriften fragt, dann kann es immer nur um einen bestimmten Bereich gehen: eine Leseschrift oder Titelschrift für Bücher, Magazine oder Zeitungen, eine Schrift, die sich kleingedruckt gut lesen lässt, ein Corporate-Font, der ein unverwechselbares Corporate Design unterstützt, oder vielleicht eine Schmuckschrift, die nur als Headline in Erscheinung tritt.

Das Adjektiv «beste» (Schrift) ist insofern irreführend, da jede Schrift in sich wieder Vor- und Nachteile aufweist. Es gibt Schriften, die haben sehr schöne Buchstaben aber – wie ich meine – grottenhässliche Ziffern. Eine andere Schrift finde ich durchaus ästhetisch, nur das kleine a ist miserabel gestaltet. Noch eine andere ist zwar adrett, es gibt aber keine kursiven Schnitte. Welche Schrift ist nun die «beste»? Man präferiert Vorteile und nimmt Nachteile in Kauf. Man wünschte sich eine bessere Differenzierung und weniger Populismus.

Schriften einteilen

Die Einteilung von Schriften in bestimmte Gruppen wurde mit der Schriftklassifikation nach DIN vorgenommen. Die Klassifikation ist aus verschiedenen Gründen überholt, sie ordnet die Schriften nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Aussehen (z. B. wie Serifen aussehen). Schriften, die es mit und ohne oder halben Serifen gibt, lassen sich nicht in ein solch starres System einordnen.

Schriften zu suchen, ist eigentlich nur noch online sinnvoll möglich, wenn mehrere Kriterien eingegeben werden können und die Suche so wesentlich einfacher wird. Die Kriterien könnten nach Designmerkmalen, Jahrgang, Ausbau usw. gegliedert werden und müssten alle Typefoundries umfassen. Trouvaillen gibts nicht allein bei Monotype/Fontshop, sondern auch bei kleineren Anbietern. «Siri, mach mir das Layout!» titeln aktuell die «swiss publishing days», mal sehen, ob Siri auch Fonts aufstöbert …

Was zeichnet Lieblingsschriften aus?

Natürlich hat jeder Schriftsachverständige eigene Vorstellungen von der guten Schrift. Dann ist da der Zahn der Zeit, der die Avantgarde zum Mainstream macht und der Retrostyle, der hippe Designer in die Mottenkiste greifen lässt. Das Schriftdesign lebte schon immer auch von der Inspiration anderer – bis hin zum Plagiat. Design kommt in Wellen über uns, auch mit bestimmten «Macken» der Schriftgestalter, die sie manchmal zeitlebens beibehalten. Aus dem fernen Ausland kommend, haben Schriftdesiger oft nicht die Empfindung für die deutsche Sprachkultur. So sind Abstände bei Sonderzeichen oder Ligaturen oder Kerning nicht immer nach unserem Gusto und unserer Perfektionsvorstellung gelungen.

Persönlich achte ich bei Schriften nebst der Ästhetik auf den Ausbaustandard: Kann die Schrift alle erforderlichen Bedürfnisse erfüllen? Wie viele Zeichen sind im Character Set enthalten, gibt es Bruchziffern und alternative Zahlen und Figuren? Wie verhalten sich Ziffern der Regular und der Bold: Können sie in Zahlenkolonnen exakt untereinandergestellt werden? Wie sehen die Sonderzeichen aus: Integrieren sich Punkt, Komma, Strichpunkt, Fragezeichen und Divis oder sind sie zu auffällig? Stehen die Buchstaben schön harmonisch zueinander oder bestehen Mängel, dass ein unausgewogenes Satzbild entsteht? Welche Abstufungen zwischen dünn und dick bestehen? Wie sehen diese Schriftschnitte aus, wenn ich sie in 8 Punkt oder in 36 Punkt Grösse ausdrucke?

Schriften, die plus/minus ab dem Jahr 2000 entstanden, sind eher für die Bildschirmbetrachtung geeignet, die Buchstabenzwischenräume stehen etwas weiter auseinander. Schriften meiner Wahl betrachte ich deshalb auch mit Blick auf diese Altersguillotine. 

… Ab auf den Datenfriedhof!

Die folgenden Schriften wurden vom Autor nie oder werden nicht mehr aus freien Stücken gewählt. Dies aus verschiedenen Gründen: zu viel im Umlauf, veraltet, schlechtes Design, zu wenig Zeichenumfang, zu wenige Schriftschnitte, zu enge Zurichtung, keine Bruchziffern vorhanden, keine Open-Type-Features, nicht bildschirmgerecht. Viele dieser Schriften sind jedoch in Bestenlisten top geratet.

Zur genaueren Betrachtung empfohlen

Die folgenden Schriften sind eine willkürliche Auswahl des Autors. Die Fonts wurden in der Praxis eingesetzt und haben sich in verschiedenen Disziplinen bewährt.

Ralf Turtschi ist Inhaber der Agenturtschi, R. Turtschi AG, visuelle Kommunikation, 8800 Thalwil. Der Autor zahlreicher Bücher und Fachpublikationen grafischer und typografischer Themen fotografiert aus Leidenschaft und ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden, tätig, wo er beim Diplomlehrgang Fotografie die Fotobuchgestaltung lehrt und an der Höheren Fachschule für Fotografie das Fach Design unterrichtet.

Kontakt: agenturtschi.ch